Elsa Gindler
Marianne Haag
Biografische Notizen Elsa Gindler (1885-1961)
Elsa Gindler wurde 1885 in Berlin geboren. Die Eltern konnten ihr keine Ausbildung ermöglichen. Deshalb verdiente sie das Geld für eine kaufmännische Lehre durch Fabrikarbeit, Hilfe im Haushalt und Schneiderei. Ab 1906 war sie als Buchhalterin geschätzte Mitarbeiterin in einer Möbeltischlerei. Abends besuchte sie allgemeinbildende Kurse von Berliner Hochschullehrern. Zudem engagierte sie sich auf dem Gebiet von Leibesübungen und lebens-reformerischen Bestrebungen. Sie selbst bezeichnete sich einmal als eine eifrige Pionierin für die Körperbildung der Frau. (Kursiv im Folgenden: Zitat Elsa Gindler)
Früh empfand Elsa Gindler ein Bedürfnis nach verantwortlichem Gestalten des eigenen Lebens. Aus ihrer Kindheit waren ihr Naturverbundenheit und ein Auf-dem-Boden-von-Realitäten-stehen vertraute und gesicherte Verhaltensweisen. Als sie 1911 Hedwig Kallmeyer kennenlernte, entschloss sie sich, den Berufswechsel zu wagen und sich bei ihr in „Harmonischer Gymnastik“ ausbilden zu lassen. Hedwig Kallmeyer hatte in Amerika bei Geneviève Stebbins gelernt, die ein System körperlicher Erziehung entwickelt hatte, das nicht auf Körperbildung zu isolierten Zwecken, sondern auf Verlebendigung des Menschen und auf Entfaltung seiner Kräfte insgesamt gerichtet war.
Ab Herbst 1912 war Elsa Gindler als Gymnastiklehrerin tätig. Der Aufbau einer selbständigen Existenz fiel in die Zeit des Ersten Weltkrieges. 1917 nahm sie mit einer ersten Ausbildungsgruppe die Arbeit auf. Bis Mitte der 20er Jahre bildete sie etwa 60 Gymnastiklehrerinnen aus. 1925 gründete Elsa Gindler mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Gymnastikschulen den „Deutschen Gymnastikbund“. Bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten 1933 war sie dessen stellvertretende Vorsitzende.
1926 hielt Elsa Gindler einen Vortrag mit dem Titel „Die Gymnastik des Berufsmenschen“, in welchem sie wesentliche Aspekte ihres Arbeitens darlegte. Sie sagte: „Es wird uns allen immer mehr fühlbar, dass wir mit unserem Leben nicht mitkommen, dass das Gleichgewicht der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte gestört ist. … Wir hören auf, unser Leben denkend und fühlend zu gestalten, werden gehetzt und lassen alle Unklarheiten um und in uns so anwachsen, dass sie immer im ungeeigneten Moment Herr über uns werden.“ Nicht das Erlernen bestimmter Bewegungen führe zu erhöhter Qualität der Leistungen und einer menschlicheren Verfassung, sondern die Erreichung von Konzentration.
1924 begegneten sich Elsa Gindler und Heinrich Jacoby. Die Bedeutung von Zustand und Verhalten für die Qualität von Wahrnehmungs-, Äusserungs- und Gestaltungsvorgängen war Grundthema der Forschung von Jacoby, in deren praktisch-pädagogische Erkenntnisse er in allgemein zugänglichen Kursen einführte. Es entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die auch zu gemeinsamen Kursen führte, in denen Elsa Gindler und Heinrich Jacoby je in ihrer Weise zentrale Fragen der Entfaltung und Nachentfaltung menschlicher Möglichkeiten thematisierten.
In einem Vortrag Elsa Gindlers vor der Generalversammlung des Deutschen Gymnastikbundes von 1931 wurde erkennbar, wie sich ihre Arbeit durch die Verbindung mit Heinrich Jacoby zu verändern begann: Die Zusammenarbeit führte zu weitgespannter Auseinandersetzung mit gesetzmässigen Bedingungen menschlicher Existenz, war Hilfe für die Erklärung früher intuitiv erfasster Zusammenhänge; präzisere Aufgabenstellungen wurden möglich. (Die Vorträge von 1926 und 1931 sind nachzulesen in: Sophie Ludwig: „Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken. Wahrnehmen, was wir empfinden.“ Christians Verlag, 2002)
Als Heinrich Jacoby 1933 emigrieren musste, konnte die Zusammenarbeit noch bis 1939 in gemeinsamen Ferienkursen in der Schweiz und in Italien fortgesetzt werden. Während des Zweiten Weltkrieges war der Austausch erschwert. Elsa Gindler lehnte den Nationalsozialismus entschieden ab. Zurückgezogen von der Öffentlichkeit arbeitete sie ab 1933 mit ihren Kursen in Berlin weiter, versorgte und unterstützte rassisch und politisch Verfolgte, auch unter eigener Gefährdung. Kurz vor Kriegsende wurden ihr Atelier und damit fast die gesamten Materialien, welche die Ergebnisse ihrer Arbeit dokumentierten, durch Bomben vernichtet. Elsa Gindler war geschwächt und gesundheitlich schwer beeinträchtigt.
1947 konnten sich Elsa Gindler und Heinrich Jacoby in der Schweiz wieder treffen. Elsa Gindlers Arbeiten war in den vergangenen Jahren eine noch dringlichere Auseinandersetzung mit der Forderung geworden, im Alltag Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen, wacher, funktionsbereiter, lebendiger zu werden. Heinrich Jacoby hatte seinen auf Tonträger aufgezeichneten Einführungskurs von 1945 in Schriftform übertragen. Die Lektüre, die Elsa Gindler ermutige und stärkte, erleichterte ein vertieftes Verständnis von Bedeutung und Tragweite der Arbeit von Heinrich Jacoby und der eigenen Arbeit.
In Berlin bezog Elsa Gindler 1950 gemeinsam mit ihrer Schülerin und Mitarbeiterin Sophie Ludwig neue Arbeits- und Wohnräume. Sie selbst bemerkte, dass ihre Arbeit im Laufe der 50er Jahre auf Grund aller Erfahrungen nun zur Reife gedeiht. In ihren Kursen erarbeitete sie mit den Teilnehmenden Fragen und „Verabredungen“, die im Verhalten bei den täglichen Aufgaben weiter zu untersuchen und zu probieren waren. Sich seinen Aufgaben gegenüber als Instrument zu verstehen und zu verhalten konnte als Bedingung erfahren werden, in der Auseinandersetzung mit Forderungen funktionsbereiter zu werden und mit sich und der Umwelt in lebendige Beziehung zu kommen. Es ging darum, sich so zu verhalten – so zu werden –, dass der Organismus, die Natur uns orientieren kann. Elsa Gindler ermutigte sich stellende Probleme wahr-zu-nehmen. Sich so wach und gelassen verhalten können, dass man nicht bloss erlebt, sondern überprüfen kann, herausfinden, was und wodurch etwas nicht in Ordnung ist, und versuchen zu entdecken, was geschehen muss, damit etwas geordneter verläuft, kann eine Aufgabe werden, die für unser Leben ausreicht. Elsa Gindler appellierte an die Verantwortlichkeit jedes einzelnen, seine Möglichkeiten zu erkennen und zu realisieren. Ihre Kurse sollten Arbeitsgemeinschaften werden, in denen alle durch ihr Sich-Einsetzen ebenso wie durch ihr Sich-Aussetzen beitrugen, Gesetzmässigkeiten menschlichen Seins zu erkennen, ihnen gehorsam zu werden. Wenn uns keine Arbeit zuviel wird, um mehr so zu werden, wie wir spüren, dass es sein will, dann haben wir uns verstanden.
1961 starb Elsa Gindler in Berlin. Ein Jahr nach ihrem Tod wurde in Israel ein Hain gepflanzt „zum Ausdruck unserer Dankbarkeit und unserer Verehrung für Elsa Gindler und für ihr Wirken“. In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem für die Toten des Holocaust wird an jene Nichtjuden erinnert, die Juden gerettet haben, auch an Elsa Gindler.